Das Bahnhofscafé

Als ich im vergangenen Jahr ein Schachturnier in Jurmala/Lettland spielte, wollte Kumpel Cliff mich in einer Mittagspause unbedingt in das Bahnhofscafé mitnehmen.  Ein sehr buntes, sehr kleines und sehr russisches Café, welches hauptsächlich durch das Personal und die bereits inventarisierten Gäste interessant ist. Umsatz spielt nur eine untergeordnete Rolle und wird möglichst vermieden.

J6

In diesem Jahr war ich mit dem Norweger Jon Gunnar zum Turnier nach Jurmala gereist. Am Sonntag wollten wir, wie schon am Tag zuvor unser Mittag im Bistro einnehmen, welches sich direkt neben dem Spiellokal befindet. Diese Idee hatten die meisten der anderen 200 Schachspieler auch und so hatte sich bereits ein ziemlich stattliches Wartekollektiv gebildet. Zeitnot befürchtend zogen wir es vor, es in einem der vielen Restaurants in der Fußgängerzone zu versuchen. Und beim Versuchen blieb es dann auch, da es in Jurmala an diesem sonnigen Sonntag ein Überangebot an Promenierenden gab und just alle Hunger hatten. Am Ende der Fußgängerzone entdeckten wir ein unscheinbares Häuschen mit reichlich leeren Tischen, einer herrlich zentralasiatischen Speisekarte und leider viel weniger unscheinbaren Preisen.

Blieb noch das Café im Bahnhof von Majori, einem Stadtteil Jurmalas. Als wir an der Fußgängerampel vor dem Bahnhof warteten, bekam ich eine Nachricht von Cliff, der freudig berichtete, dass er im Bahnhofscafé sei und dort gerade zwei ältere Russinnen mit dem Versuch gescheitert waren, einen Tee zu trinken.
Das klang ziemlich interessant und ich bereite Jon Gunnar, der kein Russisch versteht, auf eine kleine Zeitreise in die Sowjetunion vor.
Kein Russisch zu verstehen kann durchaus auch ein Vorteil sein. Als wir am Freitag mit dem Taxi nach Jaunkemeri fuhren, musste ich den Monolog des Taxifahrers, der es u. a. innerhalb eines Satzes vom Internationalen Frauentag zum Faschismus schaffte, lautlos ertragen. Um nicht loszuprusten biss ich mir in den Arm während ich gleichzeitig versuchte, mit beiden Händen die Tür zuzuhalten, um nicht aus dem überfüllten Auto zu fallen. Jon Gunnar saß derweil ganz ruhig auf dem Beifahrersitz und besah sich die Landschaft.
Wir stürmten das Café also mit einer gewissen Erwartung, deren prompte Erfüllung mir wirklich die Sprache verschlug. Bis auf Cliff war das Café leer. Cliff saß bei Bier und Balsam in der nähe der Tür während am anderen Ende des Cafés eine ältere Dame mit einem Abakus ein wenig Mathematik betrieb und aufpasste, dass der Umsatz nicht überhand nahm. Kaum waren Jon Gunnar und ich im Türrahmen erscheinen, brüllte sie uns an, dass die Toiletten in der Bahnhofshalle seien und wir uns gefälligst rausscheren sollen. Still protestierend blieben wir und ließen uns von Cliff, den die Dame bereits lieb gewonnen hatte, die Geschichte mit dem Tee erzählen. Die Bekanntschaft mit Cliff hatte uns ein Bleiberecht verschafft. Und nicht nur dass, wir durften uns am Tresen sogar etwas zu Essen aussuchen. Die Tresenarbeit wurde von einer recht schweigsamen Angestellten verrichtet, die sich vor jedem Arbeitsschritt aber immer erst ein Nicken von der Abakusdame abholte. Jon Gunnar bestellte eine mit Kohl gefüllte Pirogge und ein Stück Kuchen. Ich bekam neben dem Kuchen warme Würstchen und durfte sogar zwischen Ketchup und Senf wählen. Da ich mein Glück nicht überstrapazieren wollte, bestellte ich nur ein Mineralwasser – statt Mineralwasser und Tee wie ich es sonst oft tue. Cliff quengelte aber, dass ich unbedingt probieren müsse, Tee zu bestellen und so tat ich es. Die Caféherrin hatte mittlerweile den Abakus verlassen und sich hinter den Tresen begehen, um bessere Kontrolle zu haben und versuchte mir statt des Tees einen Kaffee schmackhaft zu machen. Gerade als ich remis bot, also vorsichtig vorschlug Tee und Kaffee einfach zu vergessen, gab  sie überraschend auf und sagte: „Na gut, dann mache ich den Wasserkocher eben an.“ Gleich darauf straffte sie sich wieder und prahlte, was für guten Liptontee sie habe. Aber darum ging es ja schon nicht mehr: Ich hatte gewonnen! Im Siegestaumel gab ich ihr Trinkgeld worauf sie etwas von einer Tochter und Hochzeit murmelte und ich das Weite suchte.
Vor dieser Mittagspause hatte ich bereits acht Partien in dem Turnier gespielt und nicht mehr als ein Remis und einen kampflosen Punkt geholt. Die letzten drei Runden – nach der Mittagspause – gewann ich alle.

 

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